Daniel Poli setzt sich für internationalen Jugendaustausch ein, im Sport, bei Jugendverbänden, Kulturinstitutionen oder Kirchen. Der Geschäftsbereichsleiter bei der Fachstelle für Internationale Jugendarbeit der Bundesrepublik e.V. (IJAB) zur Bedeutung des internationalen Jugendaustausches und zur besonderen Rolle des IB.
Corona-bedingt sind in diesem Jahr viele Begegnungen ausgefallen. Schade, oder?
Ja, denn junge Menschen nehmen von diesen internationalen Begegnungen sehr, sehr viel mit. Sie sind in einer Phase der Identitätsbildung und lernen, über den Tellerrand hinauszuschauen, andere Perspektiven einzunehmen, sich in andere hineinzuversetzen. Sie sehen sich selbst und andere neu. Auf diese Weise fördert ein Austausch Solidarität, Toleranz und internationale Kompetenz.
Was würde unserer Gesellschaft fehlen, wenn es diesen Austausch nicht gäbe?
Gerade für Deutschland wäre es schädlich, wenn bei uns Generationen heranwüchsen, die die Berührungsängste vor dem, was zunächst fremd ist, nicht überwinden können. Diese Ängste abzubauen gelingt nicht durch den normalen Tourismus oder mit Hilfe der Medien. Hätten wir diesen Austausch nicht, würde sich unsere Gesellschaft, unser Land verändern. Und auch die globalisierte Wirtschaft liefe anders, wenn junge Menschen es nicht gelernt hätten, sich in andere hineinzuversetzen, deren Perspektiven einzunehmen und mit ihnen zu kommunizieren. Und: Es braucht ganz früh solche Angebote an junge Menschen, derartige Erfahrungen machen zu können. Besonders wichtig ist das für diejenigen, die es nicht über ihr Elternhaus erfahren.
Worin sehen Sie den Nutzen für die Gesellschaft?
Gegenwärtig beobachten wir, dass die Tendenz zu nationalen Egoismen steigt und auch wir oft ein verengtes Weltbild haben. Beispielsweise nehme ich verstärkt war, dass die Lebensrealität im globalen Süden oft sehr verzerrt dargestellt wird. Kaum wird das neue sich herausgebildete Mittelschichtsmilieu wahrgenommen oder medial transportiert. Wir sind von dort eher Klischee-Bilder des Elends gewohnt als solche von jungen Menschen, die zum Beispiel virtuos mit den digitalen Anwendungen auf ihren Handys hantieren. Wie sehr wir Deutschen schon damals hinter den digitalen Möglichkeiten hinterherhinken, habe ich vor einigen Jahren eindringlich bei einer internationalen Summerschool in Portugal mit europäischen und afrikanischen Teilnehmer*innen erfahren.
Und wenn die Erfahrungen einmal nicht so gut ausfallen?
Wichtig ist, ins Gespräch zu kommen und über die Erfahrungen zu reflektieren, die man bei diesen Begegnungen macht. Und hierfür ist das pädagogische Personal das A und O: Wie gut das Personal geschult ist, wie gut seine Begleitung ist, hängt entscheidend davon ab, ob der Austausch fruchtbar wird oder nicht. Dann können selbst individuell schlechte oder kritische Erfahrungen eingeordnet und aufgearbeitet werden. Früher lief der klassische internationale Austausch so, dass die deutsche Delegation sich als „deutsch“ vorstellte, zum Beispiel anhand von Liedern oder Gegenständen, die das Land repräsentierten.
Das ist heute anders?
Wenn ich dieses Konstrukt „Nation“ aufbreche, dann können junge Menschen plötzlich erleben, dass ihnen eine Jugendliche aus Namibia viel näher ist, weil die auch Hiphop hört statt Metal wie der deutsche Nachbar. Der erste Schritt ist es zwar, Botschafter*in in einer deutschen Delegation zu sein, aber dann merken sie schnell, dass es viel, viel mehr Identitäten gibt als die der Nation. So lässt sich auch mit Vorurteilen umgehen – man kann mit ihnen spielerisch umgehen und sie damit aufbrechen. Deshalb sind sie gerade für junge Menschen so wichtig. In diesen informellen Lernräumen entwickeln sich Freundschaften, und das Vorurteilsdenken schlägt um durch den direkten Kontakt mit „dem“ oder „der“ anderen, weil Bindungen entstehen.
Geht internationale Begegnung digital?
Schon vor dem Ausbruch der Pandemie haben wir an einer Digitalisierungsstrategie für unser Feld gearbeitet. Unsere zentrale Frage ist derzeit: Was können junge Menschen bei digitalen Maßnahmen lernen, und wie gelingt das gut? Denn es ist ja klar, dass wir noch lange mit Corona werden leben müssen, auch wenn wir hier in Deutschland niedrige Inzidenzen haben. Aber das gilt nicht überall. Deshalb untersuchen wir digitale und hybride Formate, die Lernen unter diesen Bedingungen möglich machen. Und wir stellen fest, dass sich die Grenzen des Digitalen verschieben und es auch in diesen Formaten Wege gibt, sich informell auszutauschen. Natürlich anders als in der physischen Begegnung, aber doch immerhin: Auch hier ist es möglich.
Was sollte die deutsche Politik tun?
Vorweg: Das Thema ist in der Politik durchaus präsent. Es wird vielleicht etwas eng geführt, wenn nur von neuen, meist bilateralen Jugendwerken die Rede ist, aber das Thema ist da. Was ich mir wünschte, ist die Anerkennung, dass es eine Vielfalt an Austauschformaten braucht, so etwas wie Workcamps zum Beispiel, und an denen viele Länder beteiligt sind. Corona-bedingt konnte in diesen vergangenen Monaten ja vieles nicht passieren.
Konkret wünschte ich mir zweierlei von der deutschen Politik: zum einen eine langfristige Unterstützung des Arbeitsfeldes und auch unserer Partner im Ausland, um mit ihnen den Neustart zu ermöglichen. Für viele war und ist Corona gravierend: Es fehlt an finanzieller Perspektive, viele Strukturen in anderen Ländern sind ausgetrocknet. Hier sollte die Unterstützung nicht nur punktuell, sondern langfristig gesichert sein, denn das ist auch wichtig für uns, für unsere Welt, für die Zukunft junger Menschen.
Aber auch hier bei uns müssen wir neu anfangen, für den Austausch zu motivieren. Viele Jugendliche, aber auch deren Eltern, sind skeptischer geworden. Es gibt ja bereits Studien darüber, dass die Ressentiments anderen Menschen oder Gruppen gegenüber gestiegen sind. Stichwort „Querdenker“. Wir müssen Vertrauen zurückgewinnen, gerade bei den Zielgruppen, die wir eh schon schwerer erreichen.
Und über die Finanzen hinaus – braucht der internationale Austausch einen neuen Impuls?
Wir brauchen nicht nur finanzielle Unterstützung, sondern auch ganz konkrete Fürsprache – und ja, auch Symbolpolitik. Also dass sich eine Politikerin oder ein Politiker hinstellt und sagt: `Internationaler Jugendaustausch sichert die Zukunft Deutschlands!´ Und dafür brauchen wir gut ausgebildetes pädagogisches Personal, auch ehrenamtliches, das Erfahrung und Wissen mitbringt und eine Institution im Rücken hat, die sie bei Bedarf unterstützt.
Wie sehen Sie in diesem Zusammenhang die Rolle des IB?
Der IB ist ein großer Träger, der diese Art von internationalen Begegnungen schon seit vielen, vielen Jahren anbietet – und der jungen Menschen aus allen Milieus die Möglichkeit bietet, solche wertvollen Erfahrungen zu machen. Deshalb unterstützen wir gerne alles, was der IB tut. Denn die Erfahrung, die der IB mitbringt, ist sehr wichtig, und viele Träger können von ihm lernen, wie so etwas funktionieren kann. Vielleicht liegt es auch an seinem Namen, denn der trägt die Wertschätzung für das Internationale ja bereits in sich. Kann sein, dass hier gilt: Nomen est Omen. Mittlerweile machen viele Akteure ihre Austauschangebote auch den jungen Menschen zugänglich, die traditionell kaum Berührungspunkte damit hatten. Die Herausforderung wird sein, die Informationen dazu noch breiter zu streuen und auch die Eltern mit einzubeziehen.
[Alle Informationen zu den entsprechenden Angeboten des Internationalen Bundes sind hier zu finden.]
Was meinen Sie: Wo geht die Reise hin für den internationalen Jugendaustausch?
Wir können und dürfen uns nicht abschotten, sondern müssen die jungen Generationen darauf vorbereiten, in einer globalen Welt zu leben. Meine Vision ist, dass es die ganze Breite von Formaten des Austauschs und Länderbeziehungen für möglichst alle jungen Menschen gibt. Und dass sie alle in ihrer Biografie einmal die Möglichkeit hatten, eine internationale Erfahrung gemacht zu haben.